Mitteleuropa für Europa – Wertepolitische Grundsätze für Europa

Unter diesem Titel stand eine Matinee, die das Komitee der Ehrenritter gemeinsam mit der Ordensakademie am 1. März 2024 in Budapest veranstaltete. In ihren Beiträgen gingen die hochkarätigen Redner, wie auch die Diskussionsteilnehmer am Podium, auf die Bedeutung Mitteleuropas und sein Potential für Europa bzw. die Europäische Union ein. Mehr als 100 Ordensdamen, Ordensritter und Gäste – darunter auch unsere Ehrendame IKKH Camilla von Habsburg – leisteten der Einladung in das Palais Károlyi Folge, um sich die interessanten Betrachtungen und Analysen nicht entgehen zu lassen.

In seinen Begrüßungsworten erklärte Kapitular Dr. Manfred Hasenöhrl, der Zweck der Mitteleuropa Matineesei es nicht, eine der vielen emotionalen oder technokratischen Diskussionen rund um das Pro und Kontra eines gemeinsamen Europa zu führen, auch nicht, über Einzelinteressen und tagespolitische Themen zu sprechen, sondern für heute und die Zukunft einen wertepolitischen Diskurs zu führen. Einen Diskurs, der unsere Werte – unser christlich-abendländisches Gesellschafts- und Menschenbild – in den Mittelpunkt stellt. In diesem Zusammenhang hob er die Bedeutung eines klaren Bekenntnisses zu Familie und Subsidiarität, zur regionalen Verschiedenheit der Regionen Europas, zu Toleranz wie auch zum Parlamentarismus und einer wehrhaften Demokratie hervor.

Danach sprach sich der stellvertretende Ministerpräsident Ungarns, Ehrenritter Dr. Zsolt Semjén, für eine enge Zusammenarbeit der Staaten Zentraleuropas, basierend auf den Werten, die sich aus dem abendländisch, christlich-hellenistischen Weltbild ergeben, aus. Er betonte die Bedeutung des Habsburgerreichs als historischer Rahmen, welcher die Mentalität und Denkweise der Völkergemeinschaft Mitteleuropas jahrhundertelang formte und prägte. Ungarn sei bestrebt diese mitteleuropäische Einheit und Einzigartigkeit innerhalb der Europäischen Union unter dem Motto „Zentraleuropäische Solidarität innerhalb der europäischen Werte- und Solidargemeinschaft“ zu stärken und zu bewahren. Weiters betonte der stv. Ministerpräsident die nach wie vor aktive Rolle des Erzhauses: Das Haus Habsburg-Lothringen habe nicht nur über Jahrhunderte die Geschichte Ungarns zentral mitgestaltet, sondern sei weiterhin ein enger Bestandteil der Gegenwart und Zukunft Ungarns. In Person von Georg von Habsburg und Eduard von Habsburg stünden zwei prominente Vertreter der Dynastie im Dienst der ungarischen Diplomatie, der eine als Botschafter in Paris, der andere beim Heiligen Stuhl. Auch die Errichtung des Otto-von-Habsburg-Institutes sei ein Zeichen der weiterhin großen Bedeutung, die das Haus Habsburg-Lothringen in Ungarn spiele bzw. in Zukunft spielen werde.

In seinem Eröffnungsstatement bedankte sich unser Prokurator Baron Vinzenz von Stimpfl-Abele zunächst bei allen, die zum Erfolg dieser Matinee maßgeblich beigetragen hatten, insbesondere den Kapitularen Dr. Manfred Hasenöhrl und Dr. Peter Harold, sowie Vizekanzler Michael Blaha, MSc., und Komtur Gábor Boldizsár. Inhaltlich sei es naheliegend, dass sich der St. Georgs-Orden – ein EUROPÄISCHER Orden des Hauses Habsburg-Lothringen intensiv mit dem Themenfeld „Mitteleuropa für Europa – Wertepolitische Grundsätze für Europa“ auseinandersetze und arbeitete in diesem Zusammenhang zwei Charakteristika heraus, welche die Ausrichtung unserer Gemeinschaft besonders prägen: „Wir sind ein CHRISTLICHER Orden und bezeichnen uns nicht zufällig, sondern ganz bewusst als EUROPÄISCHER Orden. Das bedeutet, unser Streben gilt einem starken, stolzen Europa. Einem Europa, das sich der gemeinsamen Geschichte, wie auch der Lehren, die aus ihr zu ziehen sind, ebenso bewusst ist bzw. hoffentlich endlich ebenso bewusster wird, wie seiner gemeinsamen Werte. Dabei kann es nicht darum gehen, die Identitäten von Ländern und Regionen in einem undefinierbaren, bürokratisch verordneten Amalgam aufgehen zu lassen. Ebenso wenig kann blinder Nationalismus die Lösung sein. Was wir brauchen, ist ein neuer Typus von positivem PATRIOTISMUS, der gleichzeitig Bindung an die individuellen eigenen Wurzeln und Stolz auf das gemeinsame Europa bedeutet. Das sei kein Widerspruch, sondern der einzige Weg, die Vielfalt, die Gemeinsamkeiten wie auch die Unterschiedlichkeiten unseres Kontinents auf Basis der angesprochenen verbindenden Werte zu dessen zentraler Stärke zu machen,“ so der Prokurator. Um in diesem Sinne bestimmten europäischen Fehlentwicklungen entgegenzuwirken, brauche es unter den gegebenen Konstellationen und Machtverhältnissen ein Gegengewicht: „Wir sind überzeugt, dass ein zusammenrückendes Mitteleuropa ein Reformmotor sein kann, von dem jedes Land, aber auch ganz Europa profitiert. Denn das Potential dieses Mitteleuropas, das ja auch mit der und durch die Geschichte des Hauses Habsburg besonders verbunden ist, ist enorm! Wenn wir heute also als ein christlicher europäischer Orden des Hauses Habsburg-Lothringen über WERTEGRUNDSÄTZE FÜR EUROPA diskutieren, dürfen wir dabei nie vergessen, dass wir damit auch und vor allem über ein Bekenntnis sprechen. Über ein Bekenntnis zu einem christlichen, geschichts- und traditionsbewussten Europa. Über ein Bekenntnis zu einem EUROPA DER WERTE. In genau diesem Sinne möchte ich mit einem Zitat von Hans Dietrich Genscher enden: Europa ist unsere Zukunft, sonst haben wir keine.“

Der stellvertretende Großmeister Erzherzog Georg bekannte sich in seiner Keynote zu Zusammenarbeit und Solidarität der europäischen Staaten innerhalb der Europäischen Union. Gleichzeitig bedauerte er, dass man in den Institutionen der Europäischen Union in Brüssel weitgehend vergessen zu haben scheint, auf welchen Grundgedanken und -werten die Europäische Union fuße. Stattdessen hätten sich zunehmend ideologische Fragen in den Vordergrund gedrängt. Er unterstrich, dass Europa und die Europäische Union auf einem christlich-hellenistisches Weltbild basierten und genau diese Werte gerade in Mitteleuropa hochgehalten würden. Als ungarischer Botschafter in Frankreich sehe er jedoch mit großem Bedauern, dass viele europäische Entscheidungsträger keine umfassende, tiefergehende Kenntnis der Geschichte und politischen Zusammenhänge Zentraleuropas hätten und daher die Sensibilitäten der Partner aus diesem Raum nicht richtig einschätzen könnten, ihnen oftmals mit Unverständnis und sogar Kritik gegenüberstünden. In Mitteleuropa kenne man beispielsweise die Geschichte Frankreichs besser als Frankreich die Geschichte Mitteleuropas, so der stellvertretende Großmeister. 

In der anschließenden Podiumsdiskussion, kompetent und souverän geleitet von Dr. Gergely Pröhle, Direktor der Otto-von-Habsburg-Stiftung in Ungarn, gaben Ehrenritter Ministerpräsident a.D. Dr. Jan Peter Balkenende, der frühere Kulturminister der Tschechischen Republik Ordensritter Mgr. Daniel Herman (Tschechien), Vizekanzler a.D. Mag. Wilhelm Molterer (Österreich), Ehrenritter Präsident a.D. Mag. Rosen Plevneljev (Bulgarien), Ehrenritter Landeshauptmann a.D. Univ. Prof. Dr. Franz Schausberger (Österreich) hochinteressante, teilweise auch durchaus emotionale, Impulsstatements ab.

Ehrenritter Jan Peter Balkenende ging auf die zwei Ebenen der Subsidiarität und deren große Bedeutung für (Mittel-)Europa ein: Einerseits die vertikale, welche die lokale, regionale, nationale und europäische bzw. globale Ebene betrifft, andererseits die horizontale Subsidiarität, die das Verhältnis Staat – Bürger regelt. Anhand der durch das Subsidiaritätsprinzip vorgegebenen Rahmenbedingungen solle sich die EU entwickeln und insbesondere darauf achten, dass die jeweilige kleinste bzw. niedrigste Ebene auch wirklich die notwendigen Kompetenzen zur Umsetzung der aufgetragenen Agenden erhält. Zur Umsetzung des damit verbundenen Wertekanons – der auch den von Otto von Habsburg und seinem Sohn, unserem Großmeister Erzherzog Karl, dem St. Georgs-Orden auferlegten Pflichten entspräche – könne unsere Gemeinschaft viel beitragen.

Unser Ordensritter Daniel Hermann erinnerte daran, dass wir in einem gemeinsamen europäischen Haus leben, welches wir auf den Prinzipien der Verantwortung und Freiheit des Einzelnen aufzubauen versuchten, aber auch auf der Überzeugung, dass lediglich die Versöhnung einen festen Grundstein für ein konstruktives Miteinander und eine fruchtbringende Zusammenarbeit legen könne. Man müsse sich allerdings ebenso der Gefahren bewusst sein, die uns in der Gegenwart bedrohen. In diesem Zusammenhang ging er auf den schrecklichen Krieg in der Ukraine ein: „Im Hinblick auf die Appeasement-Politik der 1930er Jahre gegenüber Hitler, deren erste Opfer Österreich und die Tschechoslowakei waren, dürfen wir uns nicht von denen täuschen lassen, die behaupten, man könne durch Beschwichtigung Putins und durch Zugeständnisse, die die Souveränität und die territoriale Integrität der Ukraine untergraben, den Frieden erreichen. Wir müssen versuchen, stetig an unserem gemeinsamen europäischen Haus weiter zu bauen, welches uns unsere Vorfahren hinterlassen haben und stets bereit sein, es gegen jeden zu verteidigen der versucht erneut Hass, Trennung und Angst zu säen, damit das europäische Projekt des Friedens und der Freiheit nicht durch Populismus und kurzsichtige nationale Interessen bedroht wird!“

Ehrenritter Rosen Plevneljev betrachtete das „Big Picture“ und machte deutlich, dass, nicht zuletzt durch die verstärkte Hinwendung der USA zum pazifischen Raum, Europa und die EU gezwungen seien, sich von einer wirtschaftlich fokussierten Gemeinschaft auch zu einem starken, aktiven politischen Spieler am internationalen Bankett zu entwickeln. Der Umbruch der bisherigen Friedensordnung führe bedauerlicherweise zu Instabilität und Unruhe. Die EU müsse mit ihren, auf Demokratie, Menschenrechte und Sicherheit abzielenden Grundwerten eine darauf basierende Politik vorgeben. Daher sei eine gemeinsame, starke Union in unser aller Interesse und unverzichtbar.

Der Vorsitzende des Komitees der Ehrenritter, Franz Schausberger, verglich die Habsburger Monarchie mit der Europäischen Union und zeigte auf, dass erstere sowohl als Vorbild, wie auch als warnendes Beispiel für zweitere dienen könne. Als Vorbild würde sich die Monarchie vor allem in Hinblick darauf anbieten, dass sie eine Spitze hatte, die nicht multinational, sondern supranational war – den Kaiser. Dieser vermittelte eine hohe Emotionalität in allen Teilen des Vielvölkerreiches und war eine verbindende Institution, schaffte Identifikation und Identität. Das fehle der EU leider, die keine emotionale Bindung aufweise, sondern nach wie vor ein „kaltes Vernunftgebilde“ sei. Als weiteres Beispiel brachte er die effiziente Verwaltung der Habsburgermonarchie, dezentralisiert bis auf die Ebene der Statthaltereien, was in etwa den heutigen Bundesländern, beispielsweise in Deutschland und Österreich, entspräche. Das fehle ebenfalls weitgehend. Österreich-Ungarn hatte eine Armee, auch wenn diese nicht sehr stark war. Diese fehle der EU allerdings völlig und sie sei daher, was die Verteidigung betrifft, immer in Abhängigkeit von anderen. Als Beispiel dafür, in welchem Bereich die Donaumonarchie als Warnung dienen könnte, nannte er den Ausgleich 1867. Durch ihn wären im Reich zwei Teile und damit der Beginn des Zusammenbruchs und Untergangs geschaffen worden. Für die EU müsse die Lehre daraus sein, dass es nicht zwei Gruppen von Mitgliedsstaaten geben dürfe, etwa eine Nordgruppe und eine Südgruppe. Es dürfe aus seiner Sicht auch keine zwei Geschwindigkeiten der Erweiterung geben. Das wäre der Keim des Auseinanderbrechens der EU.

Wilhelm Molterer wies eindringlich darauf hin, dass wir die Geschichte kennen müssen, um sie zu verstehen und zu gestalten. Geschichte dürfe nicht instrumentalisiert werden. Wir erleben jetzt gerade im aktuellen Krieg in Europa, wie die Geschichte als Instrument verwendet werde zur Begründung und Rechtfertigung dieses Krieges. Der Stellenwert der europäischen Verfassung mit ihren Grundsäulen müsse uns bewusst sein und dass die europäische Verfassung eine wertebasierte Verfassung sei. Wir hätten seit Ende des 2. Weltkriegs den Fehler gemacht, die europäischen Grundwerte als Selbstverständlichkeit zu sehen und nicht als ein Gut, das es zu beschützen und verteidigen gelte. Auch die EU sei ein Ergebnis eines Lernprozesses, der bis heute nicht abgeschlossen wäre. Es sei für ihn schockierend zu sehen, dass aktuell Krieg in Europa ist und man müsse als Konsequenz daraus ableiten, dass man in die Verteidigungsfähigkeit zu investieren habe. Gerade in der Frage der Sicherheit – und Migration sei dabei ein Teilaspekt – könne und müsse Mitteleuropa eine wesentliche Rolle spielen. Das beträfe natürlich auch die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit, wo Mitteleuropa danach trachten müsse, wieder ein Innovationsraum zu werden. Für die Zukunft gab der Altvizekanzler zu bedenken, dass die Prognose zum Ende dieses Jahrhunderts so aussähe, dass Asien und Afrika gemeinsam 85 % der Weltbevölkerung stellen werde und Europa nur 6 %. Nur ein starkes gemeinsames Europa könne in den Fragen von Verteidigung, Sicherheit und Wirtschaft zukünftig Bestand haben.

Im Anschluss lud Gastgeber Ehrenritter Zsolt Semjén zum Mittagessen, in dessen gemütlichen Rahmen das weite Themenfeld der Matinee bis in den späten Nachmittag hinein intensiv weiterdiskutiert wurde.

Fotos: Gergely Botár / Büro des Ministerpräsidenten

Impressionen von der Matinee